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Täglich werden wir in den Medien mit neuen Katastrophen und tragischen Ereignissen im weltweiten Geschehen konfrontiert. Eines davon ereignete sich im Landesinneren der Insel Lesbos in dem griechischen Flüchtlingslager Moria. Es war Europas größtes Flüchtlingslager und ein sogenannter Hotspot der EU. Hotspots sind Erstaufnahmezentren, in denen Geflüchtete registriert werden und von wo aus sie in andere Aufnahmeländer weitergeleitet werden.

In ehemaligen Olivenhainen entstand nach und nach ein immer größer werdendes Zeltlager. Auf dem zunehmend überfüllten Gelände herrschten jahrelang katastrophale und menschenunwürdige Verhältnisse. Seit Errichtung des Lagers gab es Konflikte zwischen den Geflüchteten und den griechischen Inselbewohner*innen, für die sich keine Lösung abzuzeichnen schien. Die Frustration wuchs auf beiden Seiten an. Die Situation verschlimmerte sich weiter, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anfang März die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland öffnete. Der dadurch ansteigende Zustrom von Geflüchteten, u.a. in das Lager Moria, sollte den Druck auf die EU-Staaten erhöhen. In dem ursprünglich für 2.800 Personen konzipierten Lager lebten in der Folge zeitweilig bis zu 20.000 Menschen (März 2020). Im Rahmen dieser Entwicklung kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Inselbewohner*innen und griechischen Polizeikräften. Anfang September wurde das Lager schließlich durch einen Großbrand nahezu völlig vernichtet und musste geräumt werden.

Für viele war Deutschland das Ziel ihrer Flucht

In diesen chaotischen und schrecklichen Zuständen lebten unter den rund 20.000 Menschen auch etwa 7.000 Kinder. Die meisten waren unter 12 Jahre alt und konnten nicht verstehen, weshalb nach der weiten und gefährlichen Flucht ein Leben in Sicherheit immer noch fern schien. Fast keines der Kinder besuchte eine Schule. Die einzige Chance auf Bildung bekamen sie in einer von anderen Geflüchteten organisierten Schule, in der sie täglich eine Stunde Englisch- oder sogar Deutsch-Unterricht erhielten. Für viele war das Ziel der langen Flucht ein Leben in Deutschland. 

Für ein paar von ihnen wird sich der Wunsch auf eine Zukunft in Deutschland erfüllen, denn die deutsche Regierung hat beschlossen, insgesamt 150 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Doch Tausende andere Kinder und Erwachsene sind noch immer in der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit auf Lesbos gefangen. Viele von ihnen leben außerhalb des alten Camps und weigern sich, in das nahegelegene neu errichtete Lager Kara Tepe zu ziehen. Sie fürchten, dass sich die Hölle von Moria dort fortsetzt. Jetzt nach dem Brand erscheint vielen die Lage noch aussichtloser als zuvor. Denn laut der griechischen Regierung erhalte nur der Nahrung und eine Chance auf einen Asylantrag, wer in das neue Camp ziehe.

Die Versorgungslage ist katastrophal 

Die WDR-Reporterin Isabel Schayani berichtet: „Die Versorgungslage ist so, dass man denkt: Das ist nicht Europa. Wir haben gesehen, dass die Leute das Abwasser trinken.“ Die Verzweiflung der Menschen in Bezug auf die europäische Politik sei groß: „Die haben die Wahrnehmung, dass sie im Gefängnis waren, jetzt wieder im Gefängnis sind und dass sie nicht gehört werden.“

Außerdem scheint die Lage immer angespannter zu werden. Die Geflüchteten haben teilweise seit Tagen nicht mehr gegessen und getrunken, es wird kaum Nahrung geliefert. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen, in denen die Geflüchteten für „Freiheit“ und gegen ein neues Lager demonstrieren – als Reaktion setzt die griechische Polizei Tränengas ein, das teilweise auch Kinder und Schwangere trifft. Doch nicht nur die Geflüchteten protestieren, auch die Inselbewohner*innen wehren sich. Immer wieder gibt es Straßenblockaden und wütende Bürger*innen äußern sich sowohl gegen Hilfe für die Geflüchteten als auch gegen ein weiteres Lager. Sie wollen einfach nur, dass die Leute weggehen. Zu Beginn waren viele Inselbewohner*innen noch verständnisvoll und hilfsbereit, doch auch die Zahl der Helfenden wird immer kleiner. 

Und mittendrin im Geschehen befinden sich Tausende Kinder, die nicht verstehen, wieso ausgerechnet sie dieses Elend erfahren müssen. Inzwischen sind auch sie im Überlebensmodus. Moria macht die Kinder hart und nimmt ihnen jegliche Kindheit.

Aus meiner Sicht ist es schwer nachzuvollziehen, dass es in der Politik so schwierig ist, eine internationale Lösung zu finden. Für mich ist unvorstellbar, was die Geflüchteten auf Lesbos durchmachen, und es macht mich wütend, dass so viele Menschen und vor allem auch Kinder solche traumatischen Erlebnisse hinnehmen müssen. 

Autorin: Helen Bäumer, Foto: Louisa Gouliamaki/ AFP, Datum: 18.10.2020

Seit 2017 führt Colored Glasses mit einem hierfür entwickelten Konzept auch Workshops zum Thema „Flucht und Vertreibung“ durch. Zur erneuten und tieferen Auseinandersetzung unserer ehrenamtlichen Mitarbeitenden mit dem Konzept fand vor kurzem ein Online-Seminar statt. Genaueres zu Inhalten und Ergebnissen der Veranstaltung gibt es in folgendem Bericht auf unserem Blog zu lesen: https://coloredglasses.de/online-seminar-zu-flucht-und-vertreibung

Flucht und Vertreibung sowie der Umgang mit geflüchteten Menschen gehören zu den Themen, die in letzter Zeit in den Hintergrund geraten sind, keinesfalls jedoch an Relevanz verloren haben. Im Gegenteil – besonders jetzt besteht die Gefahr, dass Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten nicht nur Gewalt und Hunger, sondern noch zusätzlich dem Virus ausgesetzt sind. Gleichzeitig werden in Deutschland Unterkünfte für Geflüchtete zu Hotspots der Epidemie. Mehr als genug Gründe gab es daher für uns, sich nochmal genauer mit unserem Workshopkonzept zum Thema Flucht und Vertreibung auseinanderzusetzen.

So kam es dazu, dass ein Online-Auffrischungsseminar stattfand, bei dem sich unsere Colored-Glasses-Teamenden aus ganz Deutschland mit unserem sogenannten Fluchtkonzept auseinandersetzen konnten. Gastgeberinnen des Seminars waren Saskia Boiselle und Annika Taube, zwei bereits lang aktive Ehrenamtliche, die auch an der Erstellung des Fluchtkonzeptes maßgeblich beteiligt waren.

Wie können wir Fluchterfahrungen nachvollziehen?

Gemeinsam haben wir uns dabei tiefer auf das Thema eingelassen und sind als erstes selbst gedanklich den Weg nachgegangen, den viele Menschen noch vor einer Flucht aus der Heimat gehen müssen. Dabei merkt man schnell, wie wenig wir uns mit dem auseinandersetzen, was noch vor einer Flucht passiert – wie schwer es überhaupt ist, sich auf eine so ungewisse Reise zu machen, weg von Bekannten, Freund*innen oder gar Familienmitgliedern. Aber auch, wie wichtig unter solchen Umständen das Smartphone ist, das häufig zur einzigen Verbindung nach Hause wird.

Anschließend haben wir uns nochmal bewusst gemacht, wie vielfältig die Gründe für Flucht sind: Viel liest man von Krieg, Gewalt und Verfolgung in verschiedensten Teilen der Welt. Solche politischen Fluchtgründe machen aber nur einen Teil aus. Auch ökologische (z. B. Hungersnöte, Naturkatastrophen) sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Gründe (Armut, Perspektivlosigkeit) spielen eine wichtige Rolle und treiben Menschen häufig zur Flucht aus ihrer Heimatregion. Neben solchen sog. Push-Faktoren haben wir auch über Pull-Faktoren gesprochen – Faktoren, die Menschen zu einer Zielregion hinziehen, beispielsweise die Erwartung einer gewaltfreien Lebensumgebung sowie soziale und wirtschaftliche Sicherheit.

Leider sehen wir nach wie vor, dass Menschen auf der Flucht in Aufnahmeländern, darunter auch Deutschland, mit Ablehnung, Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert werden. Zwar können wir die Situationen in Krisenregionen nicht kurzfristig verbessern – durchaus können wir aber einen Beitrag zur Inklusion und gegen Diskriminierung dieser Menschen leisten, indem wir in unseren Workshops Jugendlichen die Perspektiven geflüchteter Menschen näherbringen.

Wie diskutieren wir das Thema Flucht mit Jugendlichen richtig?

Entsprechend haben uns Saskia und Annika schließlich gezeigt, wie wir schon vorhandene Colored-Glasses-Module dafür nutzen können. So haben wir praktische Hinweise gesammelt, die bei Workshops zu beachten sind, und gelernt, wie wir im Workshop als Teamende eine positive Rolle einnehmen können. Eine wertvolle Grundeinstellung haben wir dabei darin gefunden, in unseren Workshops nicht über andere zu sprechen und zu urteilen, sondern stets einen reflektierten Austausch zum Thema Flucht und Vertreibung anregen zu wollen. Dazu gehört aber auch, Workshopteilnehmenden mit Fluchterfahrungen den Raum zu lassen, sich auszudrücken, und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, sich zurückzuziehen.

Wie wollen wir Flucht zukünftig bei Colored-Glasses-Workshops integrieren?

Das gemeinsame Beisammensitzen mit Menschen, mit denen man ganz bestimmte Interessen und Ziele teilt, fehlte in den letzten Monaten vielen von uns. Umso mehr haben wir die Möglichkeit genossen, bei diesem aufschlussreichen Kurz-Online-Seminar zum Thema Flucht dabei zu sein und gemeinsam mit anderen CGler*innen für das Erreichen unserer gemeinsamen Ziele zu arbeiten. Der Umgang mit Flucht und Vertreibung spielt hierfür eine zentrale Rolle – daher möchten wir in naher Zukunft das Fluchtkonzept auch in unser allgemeines Workshop-Konzept integrieren und dem Thema damit den Raum geben, den es benötigt.

Autor: Marius Berger