Ein Interview mit Merle Doerwald – Colored Glasses hat mich stark geprägt
Interview: Julia Kastner
April 2024
Es sind die Begegnungen mit Menschen, die Merles Licht am Brennen halten. Davon hatte sie als langjährige Teamerin und jetzige Vorständin von Colored Glasses in den letzten acht Jahren viele. Doch ihr Engagement für Colored Glasses ist mehr als nur eine Leidenschaft – es ist ein Türöffner und ihr ständiger Wegbegleiter geworden. Wir haben mit ihr gesprochen.
Hallo Merle,
bevor wir uns gleich mit deinem Ehrenamt bei Colored Glasses beschäftigen, möchte ich gerne von dir wissen, wer du bist, wenn du nicht gerade Schüler*innen für eine vielfältige und tolerante Gesellschaft begeisterst.
Hallo, ich bin Merle. Wenn ich mich nicht gerade bei Colored Glasses engagiere, dann arbeite ich als Sozialarbeiterin in einer gemeinnützigen Werkstatt für erwachsene Menschen mit psychischen Erkrankungen in Göttingen. In meinem Job unterstütze ich Menschen mit Beeinträchtigungen dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich begleite sie durch ihren Alltag, gehe mit ihnen zu Ärzt*innen und Behörden und bin für sie da, wenn sie meine Hilfe benötigen.
In meiner Freizeit spiele ich seit vielen Jahren Theater in einem Jugendclub. Dort habe ich auch schon ein Praktikum gemacht und konnte mich als Regieassistenz ausprobieren. Mein Wunsch ist es, in den nächsten Jahren eine Fortbildung zur Theaterpädagogin zu machen.
Meine zwei Ehrenämter sind ein wichtiger Teil meines Lebens, in den ich viel Zeit investiere. Neben meinem Engagement bei Colored Glasses arbeite ich ehrenamtlich beim ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst.
Du bist als Jugendliche bei einem Toleranzworkshop an deiner Schule zum ersten Mal mit Colored Glasses und YFU in Berührung gekommen. Gleich danach hast du dich dazu entschieden, dich für Colored Glasses dahinter zu engagieren. Seitdem bist du aus der Colored Glasses Welt nicht mehr wegzudenken. Inwiefern hat die erste Begegnung in der Schule deine Begeisterung für das Thema geweckt?
Zunächst war es die Begeisterungsfähigkeit der Workshop-Teamerin Sarah, die mich total mitgerissen hat. Sie hatte eine wahnsinnig ansteckende Energie, die nicht nur mich, sondern viele meiner Mitschüler*innen beeindruckte. Und zwar so sehr, dass einige von uns nur wenige Wochen später unseren eigenen ersten Toleranzworkshop veranstalteten.
Daneben bin ich aber auch ein großer Fan der Methodik der Workshops. Die Möglichkeit, durch Simulationen erlebbare Erfahrungen zu machen und diese anschließend in der Klasse zu reflektieren, finde ich sehr eingängig. Es öffnet das Gespräch und ermöglicht eine tiefere Auseinandersetzung. Aber auch die theoretischen Modelle wie mein Lieblingsmodell, das Begegnungsdreieck, finde ich ziemlich toll – sie sind bis heute ein Wegbegleiter in meinem Alltag.
Schließlich sind es die Inhalte und Werte, die sich in den Zielen von Colored Glasses wiederfinden. Demokratiebildung, wertschätzender Umgang, gegenseitige Rücksichtnahme halte ich für unverzichtbar für ein gutes Miteinander und eine funktionierende Gesellschaft. Da stehe ich sehr hinter.
Welchen Einfluss haben Colored Glasses und YFU auf dich und deinen Werdegang?
Colored Glasses hat mich stark geprägt und tut es immer noch. Durch mein Engagement habe ich ganz einfache Dinge, wie formelle E-Mails schreiben und mit fremden Menschen telefonieren, gelernt. Und auch Tätigkeiten wie Workshopgruppen zu organisieren, flexibel und agil in meiner Arbeit zu sein und ein Gespür für Zeit und Gruppenkonstellationen zu entwickeln, fallen mir mittlerweile echt leicht.
Gleichzeitig hat es mich auch selbstbewusster gemacht. Vor vielen Menschen zu stehen und freizusprechen, ist für mich keine große Überwindung mehr nach acht Jahren Colored Glasses Ehrenamt. Davon profitiere ich sowohl beruflich als Sozialarbeiterin als auch privat in meiner Theatergruppe.
Zudem hat Colored Glasses mir gezeigt, was ehrenamtliches Engagement für mich und für die Gesellschaft bedeutet. Ohne den Workshop an meiner Schule hätte ich wahrscheinlich den Zugang zu Colored Glasses und anderen Ehrenämtern, die mir heute sehr am Herzen liegen, nicht gefunden.
Du hast selbst keine Austauscherfahrung und bringst daher eine ganz neue Perspektive in die Vereinsarbeit von YFU ein. Was sind deiner Meinung nach die Vorteile eines Blicks von außen?
Im Blick von außen sehe ich einige Vorteile, allen voran hinsichtlich einer bunten Ehrenamtsstruktur. Die Austauschprogramme von YFU sprechen oft eine exklusivere Gruppe von Menschen an, die von Haus aus ein gewisses Interesse an Bildung mitbringt und sich Austausch leisten kann. Ich finde es schön, wenn Ehrenamtliche nicht nur aus dieser Gruppe kommen, sondern möglichst vielfältig sind. Nicht jede*r muss studieren, um ehrenamtlich aktiv zu sein. Und nicht jede*r kann Geld für eine Fahrkarte vorstrecken. Das allein bringt schon eine andere Perspektive mit sich, die in meinen Augen viele Vorteile hat.
Wenn ich z.B. an den angestrebten Strukturwandel von YFU denke, sehe ich einen weiteren Vorteil darin, dass ich als Person ohne tieferen Kontakt zu den Vereinsstrukturen relativ neutral an das Projekt herangehen kann. Ich hänge an nichts fest, weil ich einfach wenig Erfahrung mit den Strukturen habe. Meine Perspektive könnte daher helfen, sinnvolle Veränderungen zu erkennen.
Ein Problem, das wir bei YFU und Colored Glasses immer wieder haben, ist der Mangel an Aktiven. Hier sehe ich einen Blick von außen als hilfreich, um Einstiegshürden für Menschen ohne YFU-Bezug aufzudecken und zu lösen.
Welchen Mehrwert siehst du in den Colored Glasses Workshops für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und einen guten Umgang miteinander?
Zunächst finde ich es sehr wichtig, dass wir uns bewusst machen, was Colored Glasses kann und was nicht. Ein dreistündiger Workshop in einer Schule kann niemanden umkrempeln. Das geht nicht. Was wir aber machen können: wir können den Teilnehmenden Denkanstöße geben und sie zum Reflektieren anregen.
In den Workshops finden wir gemeinsam mit den Teilnehmenden Antworten auf Fragen und Verhältnissen, die sich aus dem Zusammenleben verschiedener Kulturen ergeben. Wie reagiere ich auf fremde Menschen? Was passiert dabei in meinem Kopf, was ich beeinflussen kann? Wie kann ich Vorurteilen entgegenwirken und einen inneren Perspektivwechsel schaffen? In dem die Schüler*innen in Simulationen in ihnen unbekannte Rollen schlüpfen, erleben und bewerten sie Situationen aus einem neuen Blickwinkel. Themen, wie Ausgrenzung, Rassismus und Diskriminierung werden so greifbar und erfahrbar. Theoretische Modelle helfen anschließend die Erlebnisse einzuordnen. Nach dem Workshop können die Schüler*innen immer wieder auf die theoretischen Konzepte zurückblicken und sich in ihrem Alltag reflektieren.
Bild links: Merle (links) und Nina (rechts) beim Colored Glasses Präsenztreffen
Welchen Rat würdest du Menschen mit auf den Weg geben, die sich ehrenamtlich für Colored Glasses engagieren möchten?
Einfach anfangen! Wenn man die Zeit hat und es sich leisten kann ein, ehrenamtlich aktiv zu sein, dann ist es eine tolle Möglichkeit sich auszuprobieren. Ein Vorteil von Colored Glasses ist, dass man sich nicht auf Lebenszeit verpflichtet, sondern sehr flexibel ist und auch nur einmal im Jahr einen Workshop geben kann.
Außerdem kann das Ehrenamt dein Leben sehr bereichern. Nicht nur andere haben etwas von meinem Engagement, auch ich nehme viel für mich mit und profitiere in vielen Lebensbereichen.
Cool ist auch, dass man viele neue Städte sehen und neue Leute kennenlernen kann. Wer also Lust hat, Deutschland zu bereisen und mit vielen Menschen in Kontakt zu kommen, sollte auf jeden Fall über ein Ehrenamt bei Colored Glasses nachdenken. Als Workshopteamer*in ist man in ganz Deutschland unterwegs, ohne Reisekosten tragen zu müssen. Diese Erfahrung hätte ich ohne mein Ehrenamt nicht machen können.
Welches YFU-Klischee kannst du belegen oder widerlegen?
Ein Klischee, das ich belegen kann, ist ganz klar die Frage nach dem Austauschland. In den letzten acht Jahren war das häufig die erste Frage, die mir gestellt wurde. Was auch verständlich und logisch ist, schließlich engagiere ich mich in einer Austauschorganisation. Außerdem gibt es unfassbar viele Abkürzungen. Vor allem, wenn man YFU noch nicht so gut kennt, ist es am Anfang schwer zu verstehen, was diese Abkürzungen bedeuten. Und natürlich der YFU-Spirit, von dem alle reden. Der ist sehr präsent.
Colored Glasses in fünf Jahren – Was wünscht du dir für die Zukunft von Colored Glasses.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir unsere Workshopangebote flächendeckend anbieten können. In einigen Bundesländern haben wir häufig Probleme Menschen zu erreichen und Ehrenamtliche zu finden, die Workshops anbieten wollen. Das hat sich hoffentlich bis dahin geändert.
Aber nicht nur ein flächendeckendes Angebot, sondern auch wieder steigende Workshopzahlen möchten wir erreichen. Das Corona-Tief ist immer noch deutlich spürbar. Ich wünsche mir, dass wir in fünf Jahren auf gesündere Zahlen blicken können.
Ein weiterer Meilenstein für mich ist eine vielfältigere Ehrenamtsstruktur. Menschen mit verschiedenen Hintergründen und aus unterschiedlichen Bereichen sowie „alte und neue Hasen“, die zusammenarbeiten und sicherstellen, dass unser angesammeltes Colored Glasses Wissen nicht verloren geht.
Was hält dein Licht am Brennen?
Begegnungen mit Menschen. Das ist die Hauptsache meines Lebens und hält mein Licht am Brennen.
Vielen Dank für das Interview, Merle! 💜